News

Das Motto des Schreibwettbewerbs der Literarischen Lese in Freinsheim (Pfalz) in 2024 lautete ‚Bewegungen‘. Am 10. Mai 2024 habe ich dort meinen Text vorgestellt.

Bewegungen

Es ist flirrend heiß, und es ist ein träger, langsamer, alles zerstäubender Sommer.

Ganz weich legt sich das Seewasser um meine braungebrannten Kinderarme. Am Ufer zeugen die ins Blaue oszillierenden Rufe der älteren Kinder und das leise Gemurmel der jüngeren beim Sandburgenbauen von den beginnenden Sommerferien, vom Glück des Hier-Seins am Ufer dieses Sees mit dem samtweichen Wasser mitten in der Pfalz.

Meine Mutter und ich schwimmen ruhig, mit langen Bewegungen, weit hinaus, aber die Ufer bleiben uns. Wir sind uns nicht immer in allem einig in unseren Leben, auch später nicht, aber in diesen Momenten haben wir einen ähnlichen Rhythmus, das gleiche Bedürfnis, wir fühlen das Wasser, wie es uns erkennt, als Objekte, denen es ausweichen muss, oder darf, vielleicht wird es gerne weggeschoben, bewegt, in Aufruhr versetzt. Es riecht frisch wie eine gerade geöffnete Wassermelone und ist tausendmal türkis.

Und immer kommen meine Mutter und ich an diesen Punkt, wo wir noch weiter hinausschwimmen möchten, es aber nicht tun, denn um uns kämpfen viele kleine Lebewesen einen schrecklichen Kampf: Marienkäfer treiben auf dem Wasser, die Oberflächenspannung hält sie in einer Schwebe zwischen nicht sofort ertrinken, aber auch nicht wegfliegen können, sie sind festgefroren in ihren hilflosen Bewegungen an diesem heißen Sommertag auf dem See.

Deshalb sammeln wir die, die noch leben, mit unseren Körpern ein, setzen sie uns auf den Teil der Arme, der sich außerhalb des Wassers befindet. Die Marienkäfer sind erschöpft und halten inne. Nur an den fast unmerklichen Regungen ihrer Beinchen erkenne ich, dass sie noch leben. Wir schwimmen mit ihnen zurück zum Strand, wir sind ihre rettenden Boote, das klingt unbescheiden, aber so fühlen wir es beide. Wenn wir ankommen, setzen wir sie zum Trocknen auf die Uferpflanzen und hoffen, dass ihnen dieses Missgeschick nicht erneut geschieht.

Wir legen uns ebenfalls zum Trocknen auf die Seegrasmatten, blicken auf den fließenden Saum des Wassers, riechen den alles zerstäubenden Sommer und ahnen nicht, wie viele Marienkäfer wir an diesem Tag am See nicht eingesammelt haben.

Das Motto des Schreibwettbewerbs der Literarischen Lese in Freinsheim (Pfalz) in 2022 lautete ‚Kindheiten‘. Am 13. Mai 2022 habe ich dort meinen Text vorgestellt.

Kindheiten

Vielleicht haben wir alle mehrere Kindheiten, gleichzeitig.

Wir haben unsere Kindheiten in den dunklen Wohnzimmern der 50er, 60er, 70er, 80er Jahre. Die Sofas sind aus Cord oder Leder oder einem rauen hellgrauen Stoff, die Fernseher sind klein oder groß, da sitzen wir davor und es war vor ein paar Jahren noch Krieg, wir sehen es am Schutt und den eingefallenen Mauern der Nachbarhäuser, oder es ist der Kalte Krieg und die Mauer noch nicht gefallen. Es sind Kindheiten des Noch-Nicht. Wir sitzen in diesen Refugien, vielleicht gibt es bald ein Eis in der Sonne oder Schnee, alles passt zu Sommer oder Winter, allein der April macht in diesen Kindheiten, was er will.

Und wir haben die Kindheiten in den hellen sonnengebleichten Feldern da draußen, in der Pfalz oder vielleicht anderswo, wir sind klein, wir wissen noch nicht viel vom Anderswo, Tschernobyl ist noch nicht explodiert, der Golfkrieg beginnt vielleicht bald. Wir spielen auf der Straße, der Eiswagen fährt vor und wir müssen uns entscheiden, Schlumpfeis oder Erdbeere und Zitrone, und vielleicht geht man noch baden oder stromert zu den Nachbarn, spielt dort Murmeln oder Lego, man weiß es noch nicht, als Kind entscheidet man nichts, vielleicht darf man es nicht, und hat die Freiheit, sich dem Tag anzuvertrauen, Tschernobyl ist noch nicht explodiert. Vielleicht lesen wir nachts noch unter der Bettdecke, Die Schatzinsel, Winnetou, Die unendliche Geschichte oder den neuesten Spielzeugkatalog.

Vielleicht haben wir alle mehrere Kindheiten, unzählige. Vielleicht ist in uns auch die Kindheit unserer Eltern, Tanten, Onkel, Großeltern und deren Eltern. Vielleicht trage ich in mir auch die Kindheit meines Onkels, der 1 Jahr lang ein- und denselben Kaugummi kaut, den ihm ein US-amerikanischer Soldat geschenkt hat. Vielleicht bin ich es, die immer wieder in die Küche geht und Zucker stibitzt, um ihn wieder wenigstens ein bisschen schmackhaft zu machen. Wir alle sind stibitzende, linsende, lauschende, laute, leise, freche, ungezogene, gehorsame Kinder, wir sind es früher gewesen und heute noch.

Man tadelt und lobt uns, in den Kindergärten und Schulen, in den dunklen Wohnzimmern des Hier und Anderswo, wir schämen uns, für das, was wir sind, aber wir haben die Macht, zu stibitzen und zu linsen und zu lauschen, die Erwachsenen ahnen nicht, was wir alles können und erfahren haben, wir bewegen uns behutsam im Vielleicht und wissen bereits um Wahrscheinlichkeiten, die Zufälle und Schicksalsschläge, die kommen werden.

Sicher tragen wir mehrere Kindheiten in uns. Manchmal zählen wir sie, manchmal denken wir, es sei nur eine. Wir entwachsen den abgedunkelten Wohnzimmern, den Raps- und Maisfeldern, wir kaufen uns Kaugummi, wenn wir Lust darauf haben, manchmal schämen wir uns noch für das, was wir sind, manchmal sind wir vielleicht nicht demütig genug.

Wir sind die Kinder in uns, und so geht es weiter, bis wir uns abends schlafen legen und sagen, nur noch eine Geschichte, bitte.